Bereits 1845 beschrieb der Kinderbuchautor Heinrich Hoffmann im Struwwlpeter die Figur seines „Zappel-Philipps“, eines Kindes, das nicht stillsitzen konnte und ständig in Bewegung war, sehr zum Missfallen seiner Umwelt. Lange Zeit wurde solches Verhalten als reine Charaktereigenschaft oder Erziehungsproblem betrachtet, dem man nur mit genug Strenge und Härte beikommen würde. Erst im 20. Jahrhundert begann die Medizin, ADHS als eigenständige Störung zu erforschen.
Von frühen Begriffen wie „Minimale cerebrale Dysfunktion“ über die erste offizielle Diagnose in den 1960er Jahren bis hin zur heutigen Definition in den internationalen Klassifikationssystemen ICD-11 und DSM-5 – das Verständnis von ADHS hat sich stetig weiterentwickelt. Besonders in den letzten Jahrzehnten hat sich das Bewusstsein dafür geschärft, dass ADHS Ausdruck einer neurobiologischen Störung ist, die sowohl Kinder wie Erwachsene in unterschiedlichen Ausprägungen betrifft.
Diese Erkenntnis spiegelte sich ab den 2000er Jahren in der Forschung, da erkannt wurde, dass sich die Störung nicht immer im Jugendalter „auswächst“, sondern oft lebenslang bestehen bleibt (Biederman et al., 2006). Studien zeigten, dass viele Betroffene erst im Erwachsenenalter diagnostiziert werden, weil Symptome wie Impulsivität, emotionale Dysregulation und Organisationsprobleme oft mit anderen psychischen Erkrankungen verwechselt werden (Kooij et al., 2010). Hervorzuheben seien an dieser Stelle die Arbeiten Bernd Hesslingers (und der „Freiburger Schule“) in Zusammenarbeit mit Alexandra Philipsen und Harald Richter. Diese veröffentlichten 2004 das Arbeitsbuch „Psychotherapie der ADHS im Erwachsenenalter„, das einen umfassenden Überblick über den damaligen Kenntnisstand bietet und praxisorientierte Empfehlungen zur Diagnostik und Behandlung formuliert. Aktuellere Arbeiten, die das Thema bei Erwachsenen sehr anschaulich und informativ beleuchten, kommen insbesondere von Helga Simchen, („Die vielen Gesichter des ADHS„), Johanna und Klaus-Henning Krause („ADHS im Erwachsenenalter„) und Roberto D’Amelio, Wolfgang Retz und Alexandra Philipsen („ADHS im Erwachsenenalter„). Zudem führten Medienberichte und Selbsthilfeorganisationen zu einem wachsenden Bewusstsein für die Diagnose.
Einschneidende Beeinträchtigung
Die neurobiologischen Grundlagen von ADHS sind inzwischen gut erforscht. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass die Störung maßgeblich auf eine veränderte Funktion des dopaminergen Systems zurückzuführen ist, welches eine zentrale Rolle in der Regulation von Motivation, Belohnung und Aufmerksamkeit spielt (Volkow et al., 2009). Auch genetische Faktoren tragen wesentlich zur Entstehung von ADHS bei, wie familiäre Häufungen und Zwillingsstudien belegen (Faraone & Larsson, 2019). Darüber hinaus können Umweltfaktoren wie Frühgeburtlichkeit, pränatale Belastungen oder Toxinexposition das Risiko für ADHS erhöhen (Thapar et al., 2013).
Diese neurobiologischen Mechanismen haben weitreichende Auswirkungen auf kognitive und emotionale Prozesse. Besonders betroffen sind die sogenannten exekutiven Funktionen, also jene höheren Steuerungsprozesse des Gehirns, die für Selbstregulation, Handlungsplanung und Emotionskontrolle verantwortlich sind. Diese Defizite führen oft zu Problemen im Alltag, sei es bei der Organisation von Aufgaben, der Einhaltung von Terminen oder der Impulskontrolle in sozialen Situationen. ADHS ist daher weit mehr als bloße Unruhe oder Ablenkbarkeit – es handelt sich um eine tiefgreifende Störung der kognitiven Kontrolle, die das gesamte Leben beeinflussen kann.
Ein zentraler Aspekt der Symptomatik ist die Beeinträchtigung der exekutiven Funktionen, die sich in verschiedenen Bereichen bemerkbar macht. Dazu gehört das Arbeitsgedächtnis, das es ermöglicht, Informationen kurzfristig zu speichern und zu verarbeiten. Betroffene vergessen oft Anweisungen oder verlieren den Überblick über mehrere gleichzeitig zu bearbeitende Aufgaben (Barkley, 2014). Auch die Selbstregulation ist häufig eingeschränkt, sodass Emotionen intensiver erlebt und schwerer kontrolliert werden können, was sich in Impulsivität oder Stimmungsschwankungen äußert (Nigg, 2017). Auch die Selbstregulation ist häufig eingeschränkt, sodass Emotionen intensiver erlebt und schwerer kontrolliert werden können, was sich in Impulsivität oder Stimmungsschwankungen äußert (Nigg, 2017). Ein Beispiel hierfür wäre eine impulsive Kaufentscheidung, die später bereut wird, oder das plötzliche Verlassen eines Meetings aufgrund von Frustration. Schwierigkeiten in der Aufmerksamkeitssteuerung führen dazu, dass Betroffene häufig zwischen Aufgaben hin- und herspringen oder sich nur schwer über längere Zeit konzentrieren können (Brown, 2020). Studien zeigen, dass sich ADHS-Betroffene im Durchschnitt 25 % langsamer auf eine neue Aufgabe einstellen als neurotypische Personen (Kofler et al., 2019). Zudem sind Planung und Organisation oft herausfordernd, was sich in unstrukturiertem Arbeiten, schlechtem Zeitmanagement oder dem Verlegen wichtiger Gegenstände zeigt (Barkley, 2014). Ein weiteres Problemfeld betrifft die Motivation und Belohnungsverarbeitung: Langfristige Ziele erscheinen oft abstrakt oder wenig motivierend, wodurch es schwerfällt, kontinuierlich an Aufgaben dranzubleiben (Volkow et al., 2009). Dies erklärt, warum viele Betroffene Schwierigkeiten mit akademischen oder beruflichen Langzeitprojekten haben, selbst wenn sie über hohe intellektuelle Fähigkeiten verfügen.

„Oh der Philipp heute still wohl bei Tische sitzen will?“
Also sprach in ernstem Ton der Papa zu seinem Sohn,
und die Mutter blickte stumm auf dem ganzen Tisch herum.
Doch der Philipp hörte nicht, was zu ihm der Vater spricht.
Er gaukelt und schaukelt, er trappelt und zappelt
auf dem Stuhle hin und her.
„Philipp, das mißfällt mir sehr!““
Die Beeinträchtigungen im Alltag von Menschen mit ADHS lassen sich durch ein tiefes Verständnis der zugrunde liegenden neurobiologischen und kognitiven Defizite erklären. Während die theoretischen Grundlagen – wie die Dysregulation im dopaminergen System und die damit verbundenen exekutiven Dysfunktionen – das Fundament der Herausforderungen bilden, äußern sich diese in konkreten Alltagssituationen. Was kann aber getan werden, um kurzfristig den eigenen Alltag besser zu gestalten und das volle eigene Potenzial zu fördern?


Erste Schritte zur persönlichen Entwicklung mit ADHS
Menschen mit ADHS stehen oft vor besonderen Herausforderungen in ihrem Alltag – von Schwierigkeiten in der Selbstorganisation bis hin zu Impulskontrolle und Motivation. Doch es gibt bewährte Strategien, die helfen, diese Hürden zu überwinden und persönliches Wachstum zu fördern. In diesem Blogbeitrag stellen wir praxisnahe Ansätze vor, die durch wissenschaftliche Erkenntnisse untermauert werden und konkrete Hilfestellungen bieten.
1. Externe Strukturen schaffen
Die Schaffung externer Strukturen ist ein essenzieller Schritt, um den Alltag überschaubarer zu machen. Wer mit ADHS lebt, profitiert von klaren, unterstützenden Systemen, die helfen, Aufgaben und Termine zu organisieren.
Beispielsweise kann die Verwendung eines digitalen Kalenders, wie Google Calendar, dazu beitragen, wichtige Termine und Deadlines zu visualisieren. Kombiniert mit Erinnerungsfunktionen und Alarmen wird so verhindert, dass Aufgaben vergessen werden. Apps wie Todoist oder Trello können dabei helfen, Checklisten anzulegen, sodass man jederzeit den Überblick behält und kleine Erfolge sichtbar werden. Auch visuelle Erinnerungen – etwa durch Post-its oder ein Whiteboard im Arbeitsbereich – können dabei unterstützen, Verpflichtungen sichtbar zu machen und so die Motivation zu steigern. Studien zeigen, dass externe Organisationshilfen signifikant zur Verbesserung der Selbstmanagement-Fähigkeiten bei Menschen mit ADHS beitragen können (DuPaul et al., 2013).
2. Routinen entwickeln
Der Aufbau fester Routinen bietet einen stabilen Rahmen, der gerade für Menschen mit ADHS von unschätzbarem Wert ist. Routinen helfen dabei, den Alltag zu strukturieren und die oft impulsiven Reaktionen zu dämpfen.
Ein praktisches Beispiel: Beginne den Tag mit einem kleinen Ritual – etwa einer festen Morgenroutine, bei der du dir nach dem Aufstehen gleich fünf Minuten nimmst, um deine wichtigsten Aufgaben des Tages aufzuschreiben. Indem du neue Gewohnheiten an bereits bestehende Routinen koppelst, wie zum Beispiel direkt nach dem Zähneputzen eine To-Do-Liste zu erstellen, wird der Prozess der Gewohnheitsbildung erleichtert. Das sogenannte „Wenn-Dann-Prinzip“ kann dabei ebenfalls unterstützend wirken: „Wenn ich mein Handy checken will, dann erst nach 30 Minuten konzentrierter Arbeit.“ Solche Strategien fördern nicht nur die Selbstorganisation, sondern reduzieren auch die kognitive Belastung, die mit der ständigen Entscheidungsfindung einhergeht (Barkley, 2015).
3. Impulssteuerung verbessern
Impulsivität zählt zu den Kernsymptomen von ADHS und kann im Alltag zu unüberlegten Entscheidungen führen. Um diesem impulsiven Verhalten entgegenzuwirken, haben sich verschiedene Techniken bewährt.
Ein einfacher, aber effektiver Ansatz ist die „10-Sekunden-Regel“: Wenn du das Gefühl hast, impulsiv handeln zu wollen, zähle bis zehn, bevor du eine Entscheidung triffst. Diese kurze Pause ermöglicht es, die Situation noch einmal zu reflektieren und eine überlegte Reaktion zu wählen. Zusätzlich können Ablenkungsstrategien wie tiefes, bewusstes Atmen oder eine kurze Bewegungspause helfen, emotionale Reaktionen zu regulieren. Plane zudem regelmäßige, kurze Pausen in deinen Arbeitsalltag ein, um einer Überreizung vorzubeugen. Solche Maßnahmen basieren auf Erkenntnissen zur Selbstregulation, die in zahlreichen Studien als effektiv im Umgang mit ADHS-Symptomen beschrieben werden (Barkley, 2015; Sonuga-Barke et al., 2013).
4. Motivation steigern
Ein häufiges Problem bei ADHS ist es, große Aufgaben als überwältigend zu empfinden, was zu einem Mangel an Motivation führen kann. Die Aufteilung großer Ziele in kleine, erreichbare Schritte ist hier ein wirkungsvoller Ansatz.
Stelle dir beispielsweise vor, du musst einen umfangreichen Bericht schreiben. Anstatt dich von der Gesamtheit der Aufgabe entmutigen zu lassen, teile sie in kleinere Abschnitte auf – etwa in die Recherche, das Erstellen einer Gliederung und das Schreiben einzelner Kapitel. Jedes abgeschlossene Teilziel kann mit einer kleinen Belohnung gefeiert werden, wie einer kurzen Pause mit einem Lieblingssnack oder einem Spaziergang. Darüber hinaus können Accountability-Partner oder kleine Selbsthilfegruppen dabei unterstützen, Verantwortlichkeiten zu übernehmen und gegenseitig Motivation zu schöpfen. Diese Strategie stützt sich auf Erkenntnisse aus der Motivationspsychologie, die zeigen, dass der Erfolg in kleinen, messbaren Schritten zu einer langfristigen Steigerung der Selbstwirksamkeit führen kann (Locke & Latham, 2002).
5. Geduld und Selbstmitgefühl üben
Der Weg zur persönlichen Entwicklung verläuft selten geradlinig, und Rückschläge gehören zum Lernprozess. Besonders Menschen mit ADHS neigen dazu, sich selbst hart zu kritisieren, wenn sie ihre Ziele nicht sofort erreichen.
Anstatt sich auf vermeintliche Misserfolge zu konzentrieren, ist es wichtig, jeden kleinen Fortschritt als Erfolg zu würdigen. Übe Achtsamkeit, um deine eigenen Emotionen bewusst wahrzunehmen, und kultiviere Selbstmitgefühl – erkenne, dass Fehler Chancen zum Lernen sind. Techniken aus der Achtsamkeitsbasierten Stressreduktion (MBSR) können hierbei unterstützend wirken, indem sie helfen, in stressigen Momenten einen kühlen Kopf zu bewahren (Kabat-Zinn, 2003). Diese Herangehensweise fördert nicht nur das emotionale Wohlbefinden, sondern stärkt auch das Selbstbild und ermöglicht es, langfristig resilienter und erfolgreicher mit ADHS umzugehen.
Fazit
Die persönliche Entwicklung mit ADHS erfordert ein individuelles, vielschichtiges Vorgehen. Durch externe Strukturen, den Aufbau fester Routinen, Techniken zur Impulssteuerung, strategische Motivation und vor allem durch Geduld und Selbstmitgefühl können nachhaltige Verbesserungen erzielt werden. Diese praktischen Ansätze, die durch wissenschaftliche Erkenntnisse gestützt werden, helfen dabei, den Alltag zu strukturieren und das volle Potenzial auszuschöpfen.
Jeder Schritt mag klein erscheinen, aber in der Summe führen sie zu einer deutlichen Verbesserung der Selbstorganisation und des Selbstwertgefühls – und legen so den Grundstein für persönliches Wachstum und Erfolg im Umgang mit ADHS.
Quellen:
Barkley, R. A. (2014). „Attention-Deficit Hyperactivity Disorder: A Handbook for Diagnosis and Treatment.“
Barkley, R. A. (2015). Attention-Deficit Hyperactivity Disorder: A Handbook for Diagnosis and Treatment. Guilford Press.
Brown, T. E. (2020). „Smart but Stuck: Emotions in Teens and Adults with ADHD.“
DuPaul, G. J., Weyandt, L. L., O’Dell, S. M., & Varejao, M. (2013). College students with ADHD: Current status and future directions. Journal of Attention Disorders, 17(3), 234-246.
Faraone, S. V., & Biederman, J. (2016). „Neurobiology and Genetics of ADHD.“
Faraone, S. V., & Larsson, H. (2019). „Genetics of attention deficit hyperactivity disorder.“
Nigg, J. T. (2017). „Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder and Adverse Health Outcomes.“
Thapar, A., Cooper, M., Jefferies, R., & Stergiakouli, E. (2013). „What causes ADHD?“
Volkow, N. D., Wang, G. J., Newcorn, J. H., et al. (2009). „Motivational Deficit in ADHD is Associated with Dysfunction of the Dopamine Reward Pathway.“
Willcutt, E. G. (2012). The prevalence of DSM-IV attention-deficit/hyperactivity disorder: A meta-analytic review. Neuroscience & Biobehavioral Reviews, 36(2), 315-327.
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